Anmerkungen zur Geschichte und Gegenwart des

Yoga in Deutschland

von Dr.Christian Fuchs

Zu einem der interessantesten Kapitel in der kulturellen Begegnung zwischen Indern und Deutschen gehört sicherlich die Rezeption des indischen Yoga in Deutschland.[1] Wir beobachten in der Bundesrepublik vor allem seit dem Ende der sechziger Jahre einen wahren Yoga-Boom, der bis heute unvermindert anhält. Aus dieser Tatsache schließen manche Beobachter, die Aufnahme und Umsetzung des indischen Yoga in Deutschland sei neueren Ursprungs. Dass dem nicht so ist, dass Yoga in unseren Breiten vielmehr seit über einhundert Jahren systematisch praktiziert wird, soll der folgende Beitrag zeigen. Dabei lassen wir nicht nur die wichtigsten Stationen der hiesigen Yoga-Geschichte Revue passieren, sondern es soll auch der zentralen Frage nachgegangen werden, ob – und falls ja, wie – der hierzulande praktizierte Yoga gegenüber seinem indischen „Original“ verändert worden ist.

 
 
1.1  Der indische Yoga im Spiegel früher europäischer Reiseberichte

Die Geschichte der Yoga-Rezeption in Deutschland, die gegen Ende des 19. Jahrhunderts greifbar wird, hat eine längere Vorgeschichte. Diese Vorgeschichte umfaßt die ganze Zeitspanne der neuzeitlichen Erschließung des indischen Yoga durch die Europäer, und hier besonders durch die Deutschen.

Wie allgemein bekannt sein dürfte, setzte mit Gründung der britischen und niederländischen Ostindiengesellschaften ab 1600 ein reger Reiseverkehr nach Indien ein. Einzelne Kaufleute und Missionare verfaßten in der Folge ausführliche Berichte über ihre Reisen. Ab der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts finden sich in den literarischen Zeugnissen dieser Indienfahrer vermehrt Hinweise auf sogenannte „Fakirexperimente“.

„Fakirismus“  war das Schlagwort, unter das in jenen Reiseberichten ganz unterschiedliche Phänomene der indischen Kultur subsumiert wurden. Indische Yogins und Entsager fielen genauso unter diese Kategorie wie landestypische Bettler, Asketen, Zauberer oder Akrobaten. Noch 1908 – und selbst 1921 in der Neuauflage - hat Richard Schmidt sein umfangreiches Buch über die „Yoga-Lehre und Yoga-Praxis nach den indischen Originalquellen“ (Untertitel) mit dem - verräterischen und offensichtlich erfolgreichen - Haupttitel „Fakire und Fakirtum“ versehen.[2]

 

 
 
1.2  Die wissenschaftliche Aufbereitung des Yoga
 

Während sich das undifferenzierte Bild über den indischen Yoga im Alltagsbewußtsein der Deutschen also teilweise bis in die Moderne hielt, bemühte sich die akademische Forschung seit Mitte des 18. Jahrhunderts zunehmend um eine wissenschaftliche Aufbereitung des Themas. Das bedeutete zu jener Zeit hauptsächlich philologische Arbeit, nämlich die Erlernung der indischen Sanskrit-Sprache und die Exploration der greifbaren literarischen Quellen.

Getragen vom Enthusiasmus des aufkommenden „Orientalismus“ machten sich zunächst Pioniere wie Johann Gottfried Herder oder die Gebrüder von Schlegel an die Entschlüsselung indischer Yoga-Texte. So brachte Wilhelm von Schlegel, der 1818 auch den ersten deutschen Lehrstuhl für Indologie in Bonn besetzte, schon 1823 die erste kritische Ausgabe der „Bhagavadgita“ mit einer lateinischen Übersetzung heraus. Ein weiteres Grundlagenwerk aus deutscher Feder war die im Jahre 1896 publizierte Studie über „Sāmkhya und Yoga“ von Richard Garbe. Drei Jahre zuvor hatte Hermann Walter in München seine Dissertation über den wichtigen Yoga-Text „Hathayogapradīpikā“ vorgelegt.

Im Deutschland des ausgehenden 19. Jahrhunderts finden sich in Bezug auf den indischen Yoga somit drei unterschiedliche Gruppen:

  1. die relativ kleine Gruppe der (Fach-)Wissenschaftler, die mit einer zunehmenden Zahl qualifizierter Studien begonnen hatte, die philosophischen Lehren, religiösen Intentionen und psycho-physischen Techniken des indischen Yoga zu erforschen. Eingeschlossen in ihren akademischen „Elfenbeinturm“ hatte diese Gruppe aber wenig Einfluß auf das gesellschaftlich verankerte Yoga-Verständnis;

  2. die große Masse der Bevölkerung, die weitgehend am überkommenen Bild des Yoga festhielt. In den Köpfen vieler Deutscher saß - und sitzt teilweise noch immer - das Bild vom indischen Yogin als dem Typus des asketischen Büßers, artistischen Gauklers oder zaubermächtigen Fakirs;

  3. die kleine Schar von Pionieren, die in jenen Tagen mit einer ersten systematischen Rezeption von Yoga-Praktiken begann.

Dieser interessanten Gruppe wollen wir uns im folgenden zuwenden.

 
 
1.3  Die beginnende Rezeption des Yoga in Deutschland  (bis 1918)
 

Mit dem ausgehenden 19. Jahrhundert wird erstmals eine organisierte und systematische Rezeption des Yoga in Deutschland nachweisbar. Diese Rezeption kristallisierte sich zunächst in der Theosophischen Szene. Am 17.11.1875 war in New York von Henry Steel Olcott, Helena Petrowna Blavatsky und William Quan Judge die erste „Theosophische Gesellschaft“ gegründet worden. Frau Blavatsky (1831-1891), die schon damals als die Grand Old Lady der Theosophie galt, ging erst in ihrem Spätwerk „Die Geheimlehre“ näher auf den indischen Yoga ein. Die Aussagen, die sie dort zum Thema machte, genügten aber, um der theosophischen Bewertung des Yoga für lange Zeit eine bestimmte Richtung zu geben.

Frau Blavatsky hielt die Zeit für gekommen, die geistigen Techniken des indischen Rāja-Yoga für ihre Anhänger zu empfehlen. Wie wir heute wissen, war es vor allem der indische Yogin Svāmī Vivekananda, der gegen Ende des 19. Jahrhunderts den Begriff „Rāja-Yoga“ in Indien popularisiert hatte. Mit dem Terminus „Rāja-Yoga“ bezeichnete Vivekānanda die Traditionen und Techniken auf der Grundlage der Yogasūtras des Patañjali.

Mit Svāmī Vivekānanda teilte Frau Blavatsky die Wertschätzung des Rāja-Yoga und seiner meditativen Techniken. Und mit Vivekānanda teilte sie auch die Ablehnung des sogenannten Hatha-Yoga, jener relativ späten Entwicklung des indischen Yoga, die zunächst vor allem am physischen Geschehen des Übenden ansetzt. Frau Blavatsky ging aber noch weiter. Der Hatha-Yoga, der unter anderem die Vielzahl der uns heute so geläufig erscheinenden Körperübungen (āsana) und Atemtechniken (prānāyāma) hervorgebracht hat, galt ihr als höchst gefährlich und moralisch äußerst verwerflich. Sie ging sogar so weit, dem Hatha-Yoga „dämonische“ Kräfte zu unterstellen und warnte in diesem Sinne:

„Ich möchte jedem Schüler strengstens davon abraten, irgendeine dieser Hatha Yoga Übungen zu versuchen, denn er wird sich entweder gänzlich ruinieren oder sich selbst soweit zurückwerfen, dass es nahezu unmöglich sein wird, den verlorenen Boden in dieser Inkarnation wiederzugewinnen ... Hütet euch sage ich!“ [3]

Mit ihrer Dämonisierung des Hatha-Yoga setzt sich Frau Blavatsky dann aber doch deutlich von dem Yoga-Ansatz Vivekānandas ab. Bei der Theosophin zeigen sich hier starke Einflüsse christlich-inspirierten Gedankengutes. Damit erhalten wir ein erstes Indiz für die zu beobachtende Transformation des indischen Yoga bei seiner Aufnahme im Westen.

Auf deutscher Seite war es vor allem der Theosoph Franz Hartmann (1838-1912), der viel für die Ausbreitung des Yoga-Gedankens tat. Mit zahlreichen Artikeln in seiner Zeitschrift „Lotusblüten“ (ab 1908: „Neue Lotusblüten“) unterstützte er das von Frau Blavatsky gelehrte Yoga-Bild tatkräftig. Auch für Hartmann ist der Hatha-Yogin der Übelsten einer: „Von Täuschungen umgeben, selbst eine Täuschung, kümmert er sich nicht um die Wahrheit und dient der Lüge, wenn sie ihm dienlich dünkt.“ [4]

 

Fassen wir zusammen, welche wichtigen Elemente der prämodernen indischen Yoga-Tradition die frühe deutsche Theosophie weitgehend übernommen hat:

  • Die Theosophen pflegen das traditionelle Lehrer-Schüler-Verhältnis mit einem deutlichen Hierarchie-Gefälle zwischen dem - idealiter - verehrten Lehrer (guru) und demütigen Schüler (cela).

  • Die Theosophen geben ihre Yoga-Lehren ebenfalls als Geheimwissen weiter und tradieren damit die esoterische Unterrichtspraxis Indiens (im Gegensatz zur exoterischen Yoga-Vermittlung vieler moderner Yoga-Schulen im Westen).

  • Die Theosophen übernehmen auch zentrale Grundkonzepte der indischen Yoga-Philosophie; etwa das Konzept des „Kreislaufs der Wiedergeburten“ (samsāra), das Prinzip der „Vergeltung der Tat“ (karma) oder die Idee der „Befreiung“ (moksha) aus dem leidhaften Zustand des weltlichen Daseins, die von nahezu allen indischen Yoga-Systemen als eigentliches Ziel des Yoga formuliert wurde.

Dagegen zeigen sich in den folgenden Bereichen signifikante Abweichungen theosophischer Konzepte von den inhaltlichen Vorgaben des prämodernen Indien:

  • Die (frühen) Theosophen verwerfen die Techniken des indischen Hatha-Yoga völlig. Teilweise wird dieses Yoga-System sogar richtiggehend dämonisiert.[5]

  • In den literarischen Werken namhafter Theosophen zeigt sich eine Überformung des Yoga mit christlich-inspirierten Elementen. Besonders der yogische Befreiungszustand (moksha, kaivalya) wird bei vielen westlichen Theosophen mit christlich-angehauchter Terminologie bezeichnet und gedeutet.

  • Nicht wenige theosophische Schriften halten eine auffällige Distanz zu den Ergebnissen der einschlägigen Forschung. Diese Distanz und Spannung ist der prämodernen indischen Yoga-Tradition schon deswegen fremd, weil hier eine weitgehende Kongruenz von Konzeption (Theorie) und Umsetzung (Praxis) des Yoga besteht.

  • Namhafte Theosophen - wie Katherine Tingley  (gest.1929), die Präsidentin der „Theosophical Society“ in Amerika - sind bemüht, eine Art „Gemeinnützigkeit“ des theosophischen Yoga nachzuweisen. Dieser Versuch einer sozial-orientierten Legitimation des Yoga steht in deutlichem Kontrast zur individualistischen Ausrichtung vieler traditioneller indischer Yoga-Wege.

 

 

Großen Einfluß auf die hiesige Yoga-Rezeption hatten noch andere Entwicklungen. Um die Wende zum zwanzigsten Jahrhundert  - und in den Jahren danach - erschienen in Deutschland zahlreiche Schriften, die völlig neuen Yoga-Konzepten das Wort redeten. Es waren dies Lehrbücher, Traktate und Broschüren, die zumeist dem Thema Okkultismus verpflichtet waren. Wie allgemein bekannt, wurde Mitteleuropa in jener Zeit von einer Flut „esoterischer“ Literatur überschwemmt. Zahlreiche Gruppen, Logen und Zirkel wetteiferten um die Gunst des Publikums und priesen ihre verheißungsvollen „Geheimtechniken“ an.

Ganz auf dieser Linie lagen etwa die Schriften der Berliner „Talisman Bibliothek“, die zunächst von H.W. Bondegger  (das ist H. Rothweiler) herausgegeben wurde. Einzelne Titel dieser Reihe, wie „In zwei Stunden nicht mehr nervös!“  (Bd. 3) oder „Die Bemeisterung des Todes“  (Bd.8), verraten schon von den Formulierungen her die Diktion ihres Inhalts. Hier wurde der Versuch unternommen, esoterische Praktiken und Überlieferungen der ganzen Erde für den „Hausgebrauch“ des modernen Abendländers nutzbar zu machen. So dienten denn auch Techniken des indischen Yoga als willkommene Bereicherung des esoterischen „Speisezettels“.

Von dem - von allen traditionellen Yoga-Wegen angestrebten - Ziel einer Befreiung des Individuums aus dem Kreislauf der Wiedergeburten ist in den von Bondegger herausgegebenen Schriften keine Rede. Vielmehr handelt es sich bei seiner „Übersetzung“ um eine Unterweisung in praktischer Magie. Der Leser soll dadurch befähigt werden, seine egoistischen Neigungen und Wünsche zu verwirklichen und seine profanen Kräfte und Fähigkeiten zu vervielfachen. Der Typus des indischen Yogin ist dagegen der des Mystikers. Den klassischen indischen Yoga können wir sogar als mystischen Weg par excellence bezeichnen. Das Ziel des Yogin ist kein immanentes, sondern ein explizit transzendentes; auch wenn die Realisierung des Heils - nach den späteren Yoga-Texten - schon zu Lebzeiten und in der Welt erreicht werden kann.

Dazu passen noch zwei andere grundsätzliche Neuerungen, die durch die genannten Schriften eingeführt wurden: die Weitergabe von Yoga ohne persönlichen Lehrer (guru) und die Verbreitung der Yoga-Lehren in und für die breite Öffentlichkeit.

Allerdings haben diese beiden Neuerungen unterschiedliches Gewicht. Während ein öffentlicher Zugang zu Yoga-Konzepten bisweilen auch im alten Indien beobachtet werden konnte (denken wir etwa an die große Verbreitung der Bhagavadgītā), wiegt die Weitergabe von Yoga ohne persönlichen Lehrer weitaus schwerer. Die Anleitung und Betreuung durch einen persönlichen Lehrer (guru) gehört nach indischer Lesart zu den konstitutiven Elementen der Yoga-Vermittlung. Der Übergang von der persönlichen Vermittlung durch einen Lehrer zu der unpersönlichen Aneignung von Wissen durch ein Lehrbuch bedeutet somit nicht nur einen Wechsel des Unterrichts-Mediums. Dieser Übergang markiert vielmehr einen gravierenden Einschnitt in der neuzeitlichen Yoga-Rezeption. Ohne diesen Einschnitt wäre das heute überreiche Angebot an Yoga-Lehrbüchern ebensowenig denkbar, wie die im Westen inzwischen gewinnbringend vermarktete Idee, man könne Yoga im Selbststudium, also quasi im „Do-it-yourself-Verfahren“, erlernen. Interessanterweise zeitigt diese im Abendland geborene Idee seit geraumer Zeit auch in Indien Wirkung und hat dort - in einer Art „Reimport“ - die moderne Yoga-Szene nachhaltig beeinflußt.

 

Halten wir fest, welche bedeutsamen Veränderungen durch die okkultistischen Strömungen der ausgehenden Kaiserzeit am importierten Yoga vorgenommen wurden:

  • Der mystische Charakter des auf ein spirituelles Ziel ausgerichteten indischen Yoga wird profanisiert und - teilweise sehr egoistischen - magischen Zwecken unterworfen.

  • Die Weitergabe von Yoga findet vermehrt auf literarischem Weg statt und blendet die traditionelle persönliche Beziehung von Lehrer und Schüler weitgehend aus.

  • Gleichzeitig wenden sich die einschlägigen literarischen Erzeugnisse an die breite Öffentlichkeit.

  • Zusammengefaßt können wir sagen, dass Bondegger und andere Autoren mit ihren Schriften die Grundlagen für eine Säkularisierung und Utilisierung des in Deutschland praktizierten Yoga legen und damit die deutsche Yoga-Rezeption erstmals nachhaltig verändern.

 
 
1.4  Die Anfänge einer eigenständigen Yoga-Praxis  (bis 1945)  
 

Der erste Weltkrieg - mit seinen eminenten gesamtgesellschaftlichen Auswirkungen - tat der deutschen Yoga-Rezeption keinerlei Abbruch. Vielmehr kam es bereits in den ersten Nachkriegsjahren zu einer Intensivierung des allgemeinen Interesses an östlicher Kultur. Als signifikanter Indikator für diese indienfreundliche Stimmung mag etwa der Erfolg des Buches „Siddhartha“ von Hermann Hesse stehen, das 1922 erstmals in Berlin erschien und zu Hesses bekanntesten Frühwerken zählte.

Von diesem allgemeinen Trend profitierte natürlich auch der indische Yoga. Die praktische Ausübung von Yoga gewann gegen Ende der zwanziger Jahre derart an Popularität, dass G.R. Heyer 1933 auf der ersten „Eranos-Tagung“ in der Schweiz kritisch anmerkte:

„Es ist Mode geworden, zu introspizieren, zu meditieren, Yoga zu treiben. Aber nur der innerste Notstand führt legitim zu solchem Geschehen ... Aber ohne solche wesentlichen Unterschiede zu beachten, wendet man vielfach Yoga-, Atem- und Gymnastikübungen, indisch-asketische Diät heute und hier an.“ [6]

Einen wesentlichen Beitrag zu dieser ersten Popularisierung des Yoga leistete sicher die zunehmende Anerkennung seiner Methoden durch die westliche Wissenschaft. Ein bekanntes Beispiel hierzu sind die Arbeiten des Berliner Nervenarztes Johannes Heinrich Schultz (1884-1970), der das sogenannte „Autogene Training“ (AT) begründet hat. Schultz bezog sich in mehreren seiner Publikationen direkt auf den indischen Yoga und widmete dem Verhältnis von Yoga und AT auch eigene Beiträge. In diesem Zusammenhang ist es vielleicht interessant zu erfahren, dass Schultz die „Oberstufe“ seines AT noch 1932 als physiopsychologisch rationalisierten und systematisierten Yoga  bezeichnet hatte [7], während er seit 1950, nachdem sich das AT allgemeine Anerkennung erworben hatte, methodische Anleihen des AT am Yoga strikt verneinte.[8]

 

Vor dem zweiten Weltkrieg ließen sich immer mehr Europäer auf den Yoga ein.  Relevante Akzente für die Aufnahme und Umsetzung des Yoga in Deutschland wurden in den dreißiger Jahren dabei vor allem von einem Mann gesetzt: von Boris Sacharow (1899-1959). Sacharow war nach den vorliegenden Quellen nämlich der erste, der hierzulande eine Yoga-Schule moderner Prägung gegründet hat. Aufgrund eigener Aussagen Sacharows und aufgrund meiner Forschungen, läßt sich jetzt mit ziemlicher Sicherheit feststellen, wann der Exilrusse seine Yoga-Schule ins Leben rief: 1939 im Zentrum Berlins.[9] Sacharow hat demnach von 1939 bis 1943, als seine Schule ausgebombt wurde, in einer eigenen Institution regelmäßig praktischen Yoga-Unterricht gegeben. Er sah sich freilich gezwungen, seine Yoga-Kurse unter dem Tarnnamen „Indische Körperertüchtigung“  durchzuführen. Der Journalist Hans Daiber äußert dazu:

„Daß dies alles möglich war für jemanden, der in der Hauptstadt des Dritten Reiches lebte, ist erstaunlich. Sacharow meinte, er habe die Behörden von der Wissenschaftlichkeit seiner Arbeit überzeugen können.“ [10]

Etwa zur selben Zeit fand in Budapest eine weitere wichtige Schulgründung statt. Dort taten sich der Südinder Selvarajan Yesudian (1916-1998) und die Ungarin Elisabeth Haich (1897-1994) zusammen. Ab 1940 unterrichtete Yesudian im - zur Yoga-Schule umfunktionierten - Bildhaueratelier von Frau Haich regelmäßig. Wie Yesudian später berichtete, nahmen an seinem Unterricht Personen aus allen sozialen Schichten der ungarischen Gesellschaft teil.

Zunehmende Kriegswirren forderten freilich auch hier ihren Tribut. Nach der Zerstörung ihres Domizils Anfang 1945 verlagerten Yesudian und Haich die Yoga-Kurse vorübergehend nach Pest. Bei Kriegsende kehrten sie an den alten Standort zurück und unterrichteten noch bis 1948. Dann jedoch mußte die Yoga-Schule auf Anordnung der kommunistischen Regierung geschlossen werden und die beiden Yogalehrer emigrierten in die Schweiz. Dort setzten sie ihre Arbeit bis Mitte der neunziger Jahre fort.

Mit Sacharow und Yesudian/Haich wurde also die Yoga-Schule moderner Prägung ins Leben gerufen. Auf diese Weise fand die Yoga-Vermittlung in Deutschland ein neues Forum: eine eigenständige Institution, die regelmäßig - und in der Regel gegen Entgelt - praktischen Yoga vermittelt und zu der weite Kreise der Bevölkerung Zugang haben.

Aber nicht nur in dieser Hinsicht leisteten die genannten Yogalehrer Pionierarbeit. Sacharow und Yesudian/Haich bedienten sich in ihrem Unterricht und in ihren Yoga-Publikationen, die vorwiegend nach dem Krieg erschienen, einer recht sachlichen Sprache und eines eher nüchternen Vermittlungs-Stils. Sie hoben zunächst vor allem auf die Funktionalität und gesundheitliche Wirkung der von ihnen gelehrten Yoga- Übungen ab. Vergleicht man ihre Darstellung der Yoga-Techniken mit denen früherer Lehrbücher (vor 1930), dann wird der Unterschied sofort augenfällig. Hatten sich die meisten älteren Yoga-Lehrbücher noch in reißerischen Ankündigungen, vollmundigen Versprechungen und dunklen Warnungen ergangen, so stand jetzt eine wohltuende Versachlichung des Themas im Vordergrund.

 

 

 

1.5  Stationen der Yoga-Entwicklung in der BRD und in der DDR (bis 1990)

 

Die deutsche Yoga-Rezeption nach dem zweiten Weltkrieg erreicht gegenüber der Verbreitung des Yoga vor 1945 bemerkenswerte Ausmaße. Dies gilt vor allem für die Entwicklung in den alten Bundesländern, die ich in vier einzelne Phasen unterteilt habe. Auch auf die Geschichte des Yoga in der DDR soll ein kurzer Blick geworfen werden.

 
 

1.5.1  Yoga in der BRD: Die erste Phase der Konsolidierung  (1945-1955)  

 

In den ersten Nachkriegsjahren wurde die bundesdeutsche Yoga-Szene zunächst durch die beiden Yoga-Schulen geprägt, die schon während des Krieges aktiv gewesen waren. Die Schulen von Sacharow und Yesudian/Haich setzten ihre begonnene Arbeit fort und trugen so zu einer allgemeinen Konsolidierung der Yoga-Szene bei.

Boris Sacharow führte nach 1947 in Bayreuth und Nürnberg die Tätigkeit seiner „Ersten Deutschen Yogaschule (EDY)“ weiter. Er gab zahlreiche Yoga-Kurse und hatte so eine stetig wachsende Zahl von treuen Schülern. Sacharow hielt dabei engen schriftlichen Kontakt mit seinem eigenen Yoga-Meister, dem indischen Yogin Svāmī Shivānanda (1887-1963). Shivānanda gilt heute als der Begründer einer populären Yoga-Richtung, die sich von Indien aus über nahezu die ganze Welt verbreitete. Mit Sacharow, der 1959 bei einem Autounfall starb, konnte diese Richtung auch in Deutschland endgültig Fuß fassen.

Auch die Yoga-Schule von Selvarajan Yesudian und Elisabeth Haich gelangte in der Zeit nach 1948 zur vollen Blüte. Die beiden Yogalehrer setzten, wie oben berichtet, ihre Tätigkeit in der eigenen Schule in Zürich fort und initiierten in den darauffolgenden Jahren ein ganzes Netz von Zweigstellen in mehreren Schweizer Städten. Die „Yoga-Schule Yesudian-Haich“ avancierte so zu einer der größten und bekanntesten Einrichtungen ihrer Art in Europa. Einschlägige Publikationen von Yesudian und Haich erlangten sogar Weltgeltung. So erschien das Buch „Sport + Yoga“, das beide Autoren im Jahre 1949 in der ersten deutschsprachigen Auflage herausbrachten, 1984 in München bereits in der 29.Auflage. Mit einer Übersetzung in 18 verschiedene Sprachen und über 3 Millionen verkauften Exemplaren dürfte es wohl das am meisten verbreitete westliche Yoga-Buch der Gegenwart sein.

Neben den großen Schulen von Sacharow und Yesudian/Haich waren in der ersten Phase der Nachkriegsentwicklung vor allem drei bekannte Fach-Autoren in der Ausbreitung des Yoga aktiv:

  1. der Yoga-Schriftsteller Heinrich Jürgens (1880-1966), der schon in den dreißiger Jahren zum Thema Yoga publiziert hatte;

  2. der Yoga-Schriftsteller Felix Riemkasten (1894-1969), der neben seiner literarischen Tätigkeit ab 1953 eine „Hatha-Yoga-Schule“ in Stuttgart aufbaute;

  3. der Yoga-Schriftsteller Hans Ulrich Rieker (1920-1979), der 1952 - unter dem Mönchsnamen Dapa Kassapa - in den buddhistischen Orden „Arya Maitreya Mandala“  eintrat.

Betrachtet man die bekannten deutschen Yoga-Schriftsteller der frühen Nachkriegszeit (Sacharow, Yesudian/Haich, Jürgens, Riemkasten und Rieker) unter einem Blickwinkel, dann fällt folgende Gemeinsamkeit auf: Alle genannten Autoren waren auch in der praktischen Weitergabe des Yoga aktiv, in der Regel sogar mit eigenen Yoga-Schulen. Damit wirkten sie gleichermaßen auf der theoretischen wie praktischen Ebene der Yoga-Rezeption und trugen sehr zu deren Konsolidierung in der Gesellschaft bei.

 

 

1.5.2  Yoga in der BRD: Die zweite Phase der Institutionalisierung  (1956-1966)  

 

Die zweite Phase der westdeutschen Yoga-Entwicklung zeichnet sich durch eine vermehrt einsetzende Gründung diverser Yoga-Institutionen aus. Neben weiteren Yoga-Schulen treten nun erstmals private Einrichtungen in Erscheinung, die sich mit sogenannter „angewandter Yoga-Forschung“ befassen.

Einer der ersten Yogalehrer, die in dieser Richtung aktiv wurden, war Winfried Eggert. Eggert hatte schon 1956 begonnen, einen „Bund der Yoga-Freunde in Deutschland“ aufzubauen. Dieser Bund zählte 1961 angeblich über 600 Mitglieder.

Wenn es einen Mann gab, der seit dem Ende der fünfziger Jahre Entscheidendes für die Vernetzung und Institutionalisierung der westdeutschen Yoga-Szene getan hat, dann war dies Otto-Albrecht Isbert (1901-1986). Isbert hatte sich bereits als Yoga-Schriftsteller einen Namen gemacht, als er am 1. April 1962 in Freudenstadt das „Deutsche Yoga-Institut für Forschung, Lehre und Praxis e.V.“  (DYI) gründete. Das „Deutsche Yoga-Institut“ entwickelte bis 1977 zahlreiche Aktivitäten und gab der westdeutschen Yoga-Szene vielfältige Impulse. Nach 1977 - drei Jahre nach dem Ausscheiden Isberts - stagnierte die Institutsarbeit allerdings.

 

 

1.5.3  Yoga in der BRD: Die dritte Phase der Organisation  (1967-1979)  

 

Mit dem Jahr 1967 setzt die dritte Phase der bundesdeutschen Yoga-Entwicklung ein, in der die beiden großen Yoga-Verbände ihre Wirksamkeit beginnen. Die Zeit bis 1979 steht daher unter dem Zeichen einer nachhaltigen Mobilisierung und Organisation der hiesigen Yoga-Szene.

Ende April 1967 trafen sich in Berlin namhafte westdeutsche Yogalehrer. Die Einladung hierzu war von Dr. Isbert - im Namen des DYI - ergangen. Isbert hatte schon seit 1964 zielstrebig auf die Schaffung eines Fachverbandes für Yoga-Lehrkräfte hingewirkt. Schließlich kam es zu dem genannten Treffen in Berlin, bei dem dann am 1. Mai 1967 von 18 anwesenden Yogalehrer/innen ein eigenständiger „Berufsverband Deutscher Yogalehrer e.V.“  (BDY) gegründet wurde.[11] Der BDY verabschiedete 1979 seine „Rahmenrichtlinien für die Ausbildung zum Yogalehrer“. Damit lag erstmals eine bundesweite Ausbildungsordnung für Yoga-Lehrkräfte vor, die auch den Arbeitsämtern zugänglich gemacht wurde.

Durch eine Spaltung des „Deutschen Yoga-Instituts“ auf dem „Ersten Deutschen Yoga-Kongreß“  im Mai 1970 kam es am 1. Juni 1970 zur Gründung der „Deutschen Yoga-Gesellschaft e.V.“  (DYG). Vorsitzender dieser neuen Organisation war bis 1973 der Kurarzt Hans-Gottfried Schmidt.

Beide Verbände, der „Berufsverband Deutscher Yogalehrer“ und die „Deutsche Yoga-Gesellschaft“, waren von 1975 bis 1979 durch einen gemeinsamen Dachverband - die „Deutsche Yoga-Union“ - verbunden. In jenen Jahren gab es auch eine intensive Kooperation beider Vereine auf der organisatorischen und inhaltlichen Ebene. Seit 1979 gehen BDY und DYG aber wieder ihre eigenen Wege.

Die Gründung und Expansion der beiden genannten Verbände fällt in eine Zeit, in der die westdeutsche Yoga-Rezeption einen regelrechten Boom erfuhr. Dieser Boom, der mit dem Beginn der siebziger Jahre einsetzt, spiegelt sich auch in der nunmehr stark einsetzenden Präsenz des Yoga in den Medien wieder. Umgekehrt regte diese Medienpräsenz die Nachfrage nach Yoga noch mehr an.

So lief etwa seit Ende 1973 in der „Sportinformation“ des „Zweiten Deutschen Fernsehens“ (ZDF) der fünfminütige Beitrag „Yoga für Yeden“, der von der deutsch-kanadischen Yogalehrerin Kareen Zebroff moderiert wurde. Der Beitrag fand offenbar so viel Anklang, dass das ZDF sich entschloß, Frau Zebroffs Tele-Kursus ab Anfang 1975 in die beliebte Sendung „Drehscheibe“ aufzunehmen. Der damalige Chef der ZDF-Sportredaktion, Hanns Joachim Friedrichs, kommentierte den ungewöhnlichen Erfolg der Darbietung mit den Worten: „Gesegnetes Timing. Wir müssen einen rohen Nerv getroffen haben.“ [12]

Die große Popularität, die der Yoga in jenen Jahren gewann, veranlaßte den „Spiegel“ im Januar 1975 zu einer ausführlichen Titelstory über das Thema: „Volkssport Yoga - Heil aus dem Osten?“ Die Ausweitung der Yoga-Rezeption sollte dort mit eindrucksvollen Zahlen belegt werden:

„Yoga, die Kunst der leib-seelischen Selbstkontrolle, ist dabei zu einer Art Volkssport mit tieferer Bedeutung geworden: Mindestens 100.000 Westdeutsche, schätzen Experten, turnen tagtäglich die komplizierten Yoga-Figuren ... und der Zustrom schwillt stetig an.“ [13]

 

  

 

1.5.4 Yoga in der BRD: Die vierte Phase der Professionalisierung  (1979-1990)  

 

Die Auflösung der „Deutschen Yoga-Union“ im Herbst 1979 steht gleichzeitig für den Übergang in eine neue Phase der bundesdeutschen Yoga-Geschichte. Diese Phase zeichnet sich weniger durch organisatorische Neuerungen aus. In ihr treten vielmehr andere Bestrebungen in den Vordergrund, die zusammenfassend als Professionalisierung der Yoga-Rezeption gewertet werden können. Ich möchte drei wichtige Aspekte dieser Entwicklung kurz ansprechen:

  • Die beiden großen Yoga-Verbände (BDY, DYG), aber auch andere Institutionen, bemühen sich um eine Standardisierung und qualitative Sicherung der Ausbildung zum/zur Yogalehrer/in. Damit einher geht der Versuch, staatliche Anerkennung für bestimmte Ausbildungsgänge zu erlangen oder zumindest verbindliche „Mindestanforderungen“ für die Zulassung zum Yogalehr-Beruf durchzusetzen.

  • Einzelne Bereiche der Yoga-Praxis erfahren eine Erweiterung und Vertiefung. So rückt beispielsweise eine spezifische Yoga-Therapie stärker ins Blickfeld der Öffentlichkeit.[14] Die praktische Weitergabe von Yoga wird also immer häufiger mit therapeutischen Zwecken verbunden. Diese Entwicklung steht sicher in Zusammenhang mit dem deutlichen Image- und Vertrauensverlust, den die westliche Schulmedizin in den letzten beiden Jahrzehnten erlitten hat.

  • Gleichzeitig ist nun eine zunehmende Vernetzung von Yoga-Forschung und Yoga-Praxis zu beobachten. Hier verstehen sich vor allem einige deutsche Yoga-Institute als „Schnittstelle“ zwischen der wissenschaftlichen Exploration und der praktischen Anwendung bestimmter Yoga-Techniken.

 

 

1.5.5 Yoga in der DDR – eine kurze Übersicht  

 

Die Yoga-Entwicklung in der DDR, die ein weiteres Kapitel der deutschen Yoga-Rezeption darstellt, konnte in meiner 1990 erschienenen Dissertation noch keinen Eingang finden. Daher möchte ich hier einige Aspekte dieses interessanten Themas nachtragen.

In den fünfziger, sechziger und den frühen siebziger Jahren kann in der DDR noch nicht von einer nennenswerten Yoga-Szene gesprochen werden. Diese Situation war vor allem bedingt durch die skeptische oder sogar ablehnende Haltung maßgeblicher Parteifunktionäre der SED und anderer Blockparteien, die im Yoga in erster Linie eine religiöse Praktik sahen. Für viele Verantwortliche in Staat und Gesellschaft der DDR war Yoga damit auch Teil des „Opium des Volkes“ (Karl Marx) [15], das dem revolutionären und materialistischen Anspruch der sozialistischen Ideologie entgegenstand. Entsprechend ablehnend war die Haltung der gesellschaftlichen Institutionen und der Massenorganisationen gegenüber einer Ausübung von Yoga. Ende der fünfziger Jahre gab es sogar einen offiziellen Beschluß des „Deutschen Turn- und Sportbundes“ (DTSB) der DDR, der Yoga als „schlimmen Mystizismus“ deklarierte und quasi ein „Yoga-Verbot“ für alle vom DTSB organisierten Veranstaltungen aussprach.[16] Andererseits zeigt dieses Verbot auch, dass einzelne Yoga-Aktivitäten bereits zu jener Zeit existiert haben müssen. Ansonsten wäre ein ausdrückliches Verbot derartiger Aktivitäten sicher überflüssig gewesen.

Eine spürbare Änderung dieser Umstände brachte erst die Veränderung der politischen Großwetterlage mit sich. Nach dem Einsetzen des ersten Tauwetters zwischen Ost und West – etwa mit dem Abschluß des „Grundlagenvertrages“ zwischen der Bundesrepublik und der DDR im Dezember 1972 - und einigen politischen und gesellschaftlichen Reformen des Politbüros der DDR unter Erich Honecker wurde in den siebziger Jahren auch die Haltung vieler DDR-Offizieller gegenüber dem Yoga freundlicher.

So berichtete der „esotera“-Redakteur Claus Claussen 1977 in einem Artikel über die bundesdeutsche Yoga-Szene von einer Serie „Yoganastik für jedermann“, die zu jener Zeit in der Ostberliner „National-Zeitung“ erschien.[17]

Ein wichtiger Meilenstein in der Etablierung und Absicherung einer eigenen Yoga-Szene in der DDR war dann die Gründung des „Arbeitskreises für Yoga und altindische Medizin“ in Leipzig. Dieser Arbeitskreis „... konstituierte sich 1979 als ein Gremium am Yoga interessierter Indologen, Ärzte, Naturwissenschaftler, Physiotherapeuten, Sportlehrer und Laien, die aus jeweils ihrer Sicht eine interdisziplinäre Diskussion über Geschichte, Quellen, wissenschaftliche Hintergründe, Anwendung, Heilwirkung und praktische Erfahrung führen.“ [18]

Initiator und Mitbegründer dieses Arbeitskreises war der Leipziger Diplom-Ethnologe Heinz Kucharski (1919-2000). Durch seine Tätigkeit am Leipziger Museum für Völkerkunde konnte Kucharski dem Arbeitskreis einerseits Räume und Arbeitsmöglichkeiten zur Verfügung stellen und andererseits die Protektion der Museumsleitung angedeihen lassen. Auch die akademische Ausrichtung des Gremiums und das wissenschaftliche Renommee seiner Mitglieder trugen dazu bei, dass der Arbeitskreis trotz staatlicher Überwachung in seinen Aktivitäten unbehelligt blieb.

Der Leipziger Arbeitskreis führte in den Jahren nach seiner Gründung auch regelmäßige öffentliche Veranstaltungen zum Thema Yoga durch. Es handelte sich dabei meist um Vorträge über verschiedene Aspekte des Yoga mit begleitenden Demonstrationen von Yoga-Übungen. Die Veranstaltungen waren in der Regel sehr gut besucht, teilweise begehrten mehrere hundert Personen Einlaß in den Vortragssaal. Durch die Verknüpfung der theoretischen, wissenschaftlich abgesicherten Vorträge mit praktischen Yoga-Vorführungen gelang es dem Arbeitskreis, eine noch vorhandene Skepsis der Bevölkerung gegenüber den „orientalischen Leibesübungen“ allmählich abzubauen.

 

Neben Kucharski und anderen Aktiven taten sich in jener Zeit besonders zwei Mitglieder des Leipziger Arbeitskreises in der Förderung des Yoga hervor: Prof. Dr. Fritz Klingberg und Dr. Dietrich Ebert.

Der Mediziner Fritz Klingberg machte sich vor allem als Neurophysiologe einen Namen und forschte in diesem Kontext auch über Yoga. Zusammen mit Heinz Kucharski hielt Klingberg ab 1977/78 zahlreiche Vorträge über Yoga in vielen Städten der DDR. 1979 kam es dann sogar zu einer ersten Fernsehdiskussion über Yoga. Bekannt wurde Klingberg auch im Westen durch seine zwölfteilige Artikelserie „Yoga“, die von Januar bis Dezember 1984 in der populären Ostberliner Zeitschrift „Deine Gesundheit“ abgedruckt wurde. Wegen der großen Nachfrage wurde dieser praktische Yoga-Kurs (mit theoretischen Erläuterungen) 1986 in einem Sonderheft mit 250.000 Exemplaren verbreitet und war bald vergriffen. Da als Herausgeber dieser Zeitschrift das „Nationale Komitee für Gesundheitserziehung der DDR“ fungierte, kann die Veröffentlichung der Artikelserie Klingbergs als deutliches Anzeichen einer beginnenden Rehabilitierung und Anerkennung des Yoga durch staatliche Gremien der DDR betrachtet werden.

Einen weiteren Schub in diese Richtung bewirkte die Forschungstätigkeit des Leipziger Mediziners Dietrich Ebert. Ebert gehört zu den Mitbegründern des „Arbeitskreises für Yoga“ und begann schon ab 1974 mit einer systematischen Sammlung wissenschaftlicher Yoga-Literatur. Seit 1979 führte er an der Leipziger Universität physiologische Laboruntersuchungen zu einigen Effekten der Yoga-Praxis an in die DDR gereisten oder dort lebenden Indern durch. Später erweiterte er diese Messungen durch Untersuchung auch ostdeutscher Yoga-Probanden. Ende 1983 stellte Ebert das Manuskript für sein Buch „Physiologische Aspekte des Yoga und der Meditation“ fertig, das 1986 beim „VEB Georg Thieme Verlag“ in Leipzig erschien.[19]

Das Erscheinen von Eberts Buch markiert denn auch den endgültigen Durchbruch in der öffentlichen Anerkennung des Yoga in der DDR. Spätestens Mitte der achtziger Jahre hatten sich Yoga-Kurse in nahezu jeder größeren Stadt der DDR etabliert. Teils wurden diese Kurse privat durchgeführt, teils aber auch von staatlichen Institutionen oder von Einrichtungen der Massenorganisationen (FDGB etc.) getragen. Die zunehmende Wertschätzung der Yoga-Techniken als geeignete Praxis für die gesundheitliche Prophylaxe und als (begleitende Maßnahme zu einer) Therapie machte es schließlich sogar möglich, dass Dietrich Ebert bereits im Juni 1989 an einem wissenschaftlichen Symposium zum Thema „Yoga - Körper – Geist“ in Düsseldorf teilnehmen konnte. Derartige Kontakte zur westlichen Yoga-Szene wurden mit dem Fall der Mauer Ende 1989 natürlich erheblich intensiviert und erweitert.[20]

 

 

 

1.6 Aktuelle Tendenzen in der gesamtdeutschen Yoga-Szene (seit 1990)

 

Zum Abschluß meines historischen Überblicks möchte ich noch auf aktuelle Tendenzen der deutschen Yoga-Szene zu Sprechen kommen:

  • Mit dem neuen Jahrtausend werden auch hierzulande Angebote wie „Power-Yoga“, „Fitneß-Yoga“, „Yoga-Gymnastik“ etc. immer beliebter. Ihren Ursprung haben viele dieser neuzeitlichen Yoga-Formen zumeist in den USA. Dort setzte ab Mitte der neunziger Jahre – zunächst in Kalifornien – ein regelrechter Boom an Methoden ein, die einerseits sehr dynamische Yoga-Übungen entwickelten und andererseits begannen, Yoga mit anderen Körperpraktiken – wie Stretching, Aerobic, Tanz etc. – zu kombinieren.[21] Bekannter wurden diese neuen Trends bei uns nicht zuletzt durch zahlreiche Beiträge vor allem der Printmedien aus dem Bereich der Frauen- und Männerzeitschriften, Gesundheits- und Lifestyle-Magazine. Das dort abgedruckte Bekenntnis zahlreicher Prominenter zum Yoga verleiht den angepriesenen „Power-Yoga“-Formen natürlich zusätzliche Attraktivität. Es ist daher sicher nicht falsch, diesen Trend als modernen Lifestyle-Yoga zu bezeichnen, der zunehmend auch in Fitneß- und Gymnastik-Studios seine Heimat findet.

  • Damit einher geht eine gesellschaftliche Tendenz, die zunehmend auch im Yoga ihren Niederschlag findet: das Bedürfnis und Bestreben nach einer Ich-Stärkung der Persönlichkeit. Ich beobachte diese Entwicklung etwa bei Menschen, die sich bei uns für eine Ausbildung zum/zur Yogalehrer/in bewerben. Immer häufiger melden sich Frauen und Männer, die (fast) ohne eigene Yoga-Praxis auf die Idee kommen, sofort den Yoga an andere weitergeben zu wollen, nicht selten verbunden mit der Aussage: „Ich habe doch etwas mitzuteilen“.[22] Eine solche ichbezogene Einstellung, die die Schülerschaft im Yoga glatt aussparen möchte, war bis vor wenigen Jahren noch kaum anzutreffen.

  • Fassen wir diese beiden Punkte zusammen, dann läßt sich verdichtet sagen: Ein Großteil der hiesigen Yoga-Klientel zeigt sich zunächst nur an der Verbesserung ihrer physischen und psychischen Leistungsfähigkeit interessiert. Salopp ausgedrückt: Muskeln und Ego sollen dank Yoga wachsen. Die spirituellen Dimensionen des Yoga werden hier zunächst fast völlig ausgeblendet. Mit dieser modernen westlichen Entwicklung kann - aus religionswissenschaftlicher Sicht - nun endgültig von einer Säkularisierung (Verweltlichung) des Yoga gesprochen werden.

  • Es gilt freilich auch hier: Keine Regel ohne Ausnahme. Langfristige Beobachtungen der Yoga-Szene legen nahe, dass Menschen, die länger als drei Jahre Yoga praktizieren, ihre Erwartungshaltung gegenüber dem Yoga zu verändern beginnen. Stehen am Anfang des Yoga-Übens zumeist körperorientierte Motive - wie der Wunsch nach „Fitneß“ und „Entspannung“ - im Vordergrund, dann nennen langjährige Übende eher Ziele wie „Selbst- und Seinserfahrung“ und fühlen sich durch Yoga auch insgesamt „religiöser gestimmt“.[23] Insofern wird abzuwarten bleiben, ob diese Beobachtung aus der Vergangenheit auch für die neue Generation der „Lifestyle-Yogis“ zutreffen wird.

Damit kann festgehalten werden, dass dem populären Trend, einen säkularisierten Yoga als ideales Fitneß- und Entspannungssystem anzusehen, ein anderer „Trend“ entgegensteht:[24] Hier ist Yoga dann in erster Linie Hilfe zur „Selbstfindung“, ein begleitender Weg zur Bewältigung von Sinn- und Lebenskrisen, und nicht zuletzt auch Ergänzung zu oder Ersatz für die angestammte (meist christlich geprägte) Religiosität, in die der jeweilige Mensch sozialisiert wurde. In Yoga-Kreisen wird für die Beschreibung dieses Themenfeldes gerne der Begriff „spirituelle Erfahrung“ verwendet. Diese Geisteshaltung ist dann wiederum der Auffassung von Yoga wesentlich näher, wie wir sie im traditionellen Indien finden.  

 

Fazit: Die zeitgenössische deutsche Yoga-Szene erscheint vielschichtig und widersprüchlich. Populäre Tendenzen einer radikalen Säkularisierung des Yoga kontrastieren mit ernstzunehmenden Versuchen, Yoga als bewährten Mittel der Selbst- und Seinsfindung und als spirituellen Weg einzusetzen. Die Zukunft des Yoga in Deutschland bleibt also spannend.

________________________________________

 

[1]  Dieser Artikel fußt weitgehend auf den Forschungsergebnissen, die ich im Rahmen meiner Dissertation gewonnen habe. Vgl.: C.Fuchs, Yoga in Deutschland.  Rezeption - Organisation - Typologie , Stuttgart (Kohlhammer Verlag) 1990.

[2]  Vgl.: R. Schmidt, Fakire und Fakirtum  im alten und modernen Indien, Berlin 1908.

[3]  H.P. Blavatsky, Die Geheimlehre, 4 Bände, Den Haag (Verlag J.J. Couvreur) ohne Jahr, Bd.3, 491.

[4]  F. Hartmann, Radscha Yoga - Hatha Yoga und Tantrika oder Weiße und schwarze Magie und Hexerei, Calw (Schatzkammerverlag) ohne Jahr, 122.

[5]  In der modernen Theosophie - nach 1945 - konnte sich diese radikale Ablehnung des Hatha-Yoga allerdings nicht halten. Und heute findet man in einzelnen theosophischen Zeitschriften sogar eine vorsichtige Propagierung ausgewählter Hatha-Yoga-Übungen.

[6]  G.R. Heyer, Sinn und Bedeutung östlicher Weisheit für die abendländische Seelenführung, in: Olga Fröbe-Kapteyn (Hg.), Eranos-Jahrbuch 1933 , Zürich 1934, 226 und 235.

[7]  J.H. Schultz, Oberstufe des autogenen Trainings und Raya-Yoga, in: „Zeitschrift für die gesamte Neurologie und Psychiatrie“ Bd.139 (1932), 34.

[8]  Vgl. dazu Schultz`s Aussage: „Es wird, besonders von Journalisten, sehr oft behauptet, das autogene Training käme vom Yoga. Das ist sachlich falsch; das autogene Training hat sich aus der ärztlichen europäischen Hypnose entwickelt.“; in: ders., Autogenes Training und Yoga, in: W. Bitter (Hg.), Abendländische Therapie und östliche Weisheit, Stuttgart 1968, 166.

[9]  Vgl. dazu meinen Artikel: C. Fuchs, Yoga in Deutschland, in: „BDY-Information“ [Zeitschrift des „Berufsverbandes der Yogalehrenden in Deutschland e.V.“] Nr.5-1990, 13-16.

10]  H. Daiber, Soiree: Selbstschau im Kopfstand - Westöstliche Erfahrungen mit Yoga, Skript zur gleichnamigen Sendung des Südwestfunks (SWF II) vom 22.4.1978, 40f.

[11]  Seit Oktober 1998 heißt der BDY nach einer Satzungsänderung: „Berufsverband der Yogalehrenden in Deutschland e.V.“.

[12]  Vgl. dazu den Titelbeitrag: Volkssport Yoga – Heil aus dem Osten?, in: „Der Spiegel“ Nr.5-1975, 92.

[13]  ebenda

[14]  Vgl. dazu etwa: S. Feuerabendt + O. Hammer, Yogatherapie – Der natürliche Weg zur Gesundheit, München 1987. Dabei ist hervorzuheben, dass Koautor Dr. med. Oscar Hammer nicht nur Chefarzt verschiedener Kurkliniken in Bad Nauheim war, sondern dort auch äußerst erfolgreich Yoga in der Raucherentwöhnung als Pilotprojekt eingesetzt hat (vgl. ebenda, 263ff.).

[15]  Das Zitat von Karl Marx wird meist inkorrekt als „Religion ist Opium für das Volk“ wiedergegeben. Der genaue Wortlaut des Zitates ist aber: „Die Religion ist der Seufzer der bedrängten Kreatur, das Gemüt einer herzlosen Welt, wie sie der Geist geistloser Zustände ist. Sie ist das Opium des Volkes.“ - Vgl. dazu auch: H. Gollwitzer, Exkurs zu dem Ausdruck „Opium des Volkes“, in: Marxismus-Studien IV, Tübingen 1962, 14-19.

[16]  Leider liegt mir der wörtliche Text dieses DTSB-Beschlusses auf Grund der schlechten schriftlichen Quellenlage nicht vor. Diese und weitere Informationen stammen aus einem Interview, das ich am 25.August 1992 in Leipzig mit Heinz Kucharski, dem ersten Vorsitzenden des „Arbeitskreises Yoga Darshana“ geführt habe.

[17]  Vgl.: C. Claussen, Konfrontation mit Yoga, in „esotera“  Nr.11-1977, 1002.

[18]  Aus einer Selbstdarstellung des Arbeitskreises  „Yoga-Darshana“ vom September 1992.

[19]  Vgl.: Dietrich Ebert, Physiologische Aspekte des Yoga und der Meditation, Leipzig (VEB Georg Thieme Verlag) 1986; Lizenz-Auflage: Stuttgart (Gustav Fischer Verlag) 1986.

[20]  Nach Aussage mehrerer ostdeutscher Informanten, wäre bei einem Fortbestehen der DDR über 1990 hinaus sogar eine staatliche Förderung von Yoga-Kursen möglich gewesen.

[21]  Vgl. dazu exemplarisch: Der Super Wellness-Trend aus USA: Das Neue Power-Yoga, in: „Freundin“ Nr.8-1999, 56ff.

[22]  Vgl. dazu meinen Beitrag: C. Fuchs, Ich will Yogalehrer werden. Warum immer mehr Menschen Yogalehrer und immer weniger Yogaschüler sein möchten, in: „Yoga aktuell“ Nr.10-(Okt./Nov.) 2001, 20-22.

[23]  Vgl. hierzu exemplarisch: Sonja Gehlen, Veränderungen des Selbst-Ausdrucks durch Dauerlaufen und Yoga-Übungen. Eine empirische Studie, „Erste Staatsarbeit“ an der Gesamthochschule Paderborn 1982.

[24]  Vielleicht ist es in diesem Zusammenhang sogar richtiger, nicht von gegenläufigen Trends zu sprechen, sondern eher von sich ergänzenden und sich entwickelnden Lebensentwürfen in den komplexen Biographien moderner Menschen.